Was ist Queer Theology?

Wenn nicht-heterosexuelle Menschen über Gott nachdenken, sind ihre Gedanken anders als jene heterosexueller Menschen? Wenn Menschen, deren Geschlecht nicht das ist, das ihnen bei ihrer Geburt zugeteilt wurde, die Bibel lesen, verstehen sie die Texte anders als cis-gender Menschen?
Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich Queer Theology und versucht Antworten zu finden. Queer steht hier als Sammelbegriff für alle, die nicht in ein heteronormatives Schema und/oder nicht in eine binäre Geschlechterzuschreibung auf Grund der körperlichen Merkmale passen. Queer denken heisst auch, ein Schubladendenken abzulehnen. Menschen gruppenweise Etiketts aufzudrücken, ist alles andere als queer.

Zwei längere einleitende Bemerkungen und anschliessend einige Beispiele. Am Schluss der Seite ist ein Glossar.

Christlich – Lesbisch – CooL

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CooL
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Es gibt immer und überall Menschen, die nicht in akzeptierte Kategorien passen. Soweit moderne Sexualforschung das feststellen kann, ist der Prozentsatz homo- und bisexueller Menschen weltweit relativ konstant, unabhängig davon, wie die gesellschaftliche Haltung ist. Für trans* Menschen dürfte das Gleiche gelten, und wieviele intersex* Kinder geboren werden, ist sowieso nicht von der Gesellschaftsmoral abhängig. Die weitverbreiteten Formen der Repression führen jedoch dazu, dass von queeren Menschen wenig Positives berichtet wird. Wer sich auf die Spurensuche nach queeren Menschen begibt, muss verschiedene Formen der Repression aufdecken:

Verschweigen

Zum Verschweigen gehört das Verstecken queerer Identität durch die betreffende Person selbst, aber auch das Verschweigen durch Drittpersonen, sei es, dass diese überhaupt nicht über die queere Person reden, oder dass sie deren queere Identität verschweigen oder gar bewusst verschleiern.
Eine weitere Form des Verschweigens ist in unseren Köpfen: Wenn wir davor zurückschrecken, uns zu fragen, ob eine von uns geschätzte Person queer sein könnte, spielt verinnerlichte Homo- und Transphobie eine Rolle. Die Antwort mag lauten, wie sie will, aber „das kann doch nicht sein!“ ist keine sachliche Begründung.

Verklausulierungen

Wo nicht Klartext geredet wird oder werden kann, greifen Menschen auf Symbole und Andeutungen zurück. Diese sind im Moment relativ eindeutig, aber irgendwann werden sie vielleicht nicht mehr verstanden. Beispiele: Ein Ohrring im rechten Ohr eines Mannes mag in Kalifornien ein Hinweis sein, dass der Träger schwul ist, in Appenzell hat er eine ganz andere Bedeutung. Im Englischen gibt es die Redewendung jemand sei „not the marrying kind“ („nicht die Sorte, die heiratet“). Das kann ja nun unterschiedlich gemeint sein. Wenn wir uns mit biblischen Texten oder mit Kirchengeschichte beschäftigen, kann es sein, dass wir Andeutungen im damaligen Jargon schlicht nicht verstehen oder nicht einmal bemerken.

Negative Belege

Dazu gehören Verbote, Schimpfworte und abschreckende Geschichten. Einerseits sind solche negativen Belege ein eindeutiger Hinweis, dass die schimpfenden und verbietenden Personen wissen, dass es Menschen gibt, die den Konventionen nicht entsprechen. Andererseits geben sie eine abschätzige Aussenperspektive wieder. Wie queere Menschen sich selbst sehen, lässt sich daraus nicht ableiten.

Ein Beispiel für die Wirkung der Bilder im Kopf:

Viele kennen vermutlich Michelangelos „Die Erschaffung Adams“. Die Darstellung ist Teil der Wandmalereien in der Sixtinischen Kapelle. Gott der Schöpfer wird darin als alter Mann mit Bart dargestellt. Darauf angesprochen werden viele Christ_innen sagen: „Selbstverständlich ist Gott kein alter Mann mit Bart.“ Aber wer oder was ist Gott? Vor einigen Jahren sorgte ein Gemälde der afro-kubanisch-amerikanischen Künstlerin Harmonia Rosales für Furore. In den Grundzügen war es Reproduktion von Michelangelos Schöpfung. Nur waren sämtliche Figuren nicht weisse Männer, sondern schwarze Frauen. Die Reaktionen waren sehr emotional. Sie reichten von heller Begeisterung („Endlich erkenne ich mich darin wieder!“) über irritiertes Interesse bis zu Vorwürfen der Gotteslästerung und blankem Hass. Wieso? Wenn wir die Grösse und Unfassbarkeit Gottes ernst nehmen, sind beide Darstellungen Gottes gleich falsch – oder gleich richtig. Nur: die eine haben wir auf Reproduktionen schon hundert Mal gesehen, die andere ist neu. Die eine spiegelt die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, an die wir uns gewöhnt haben, die andere stellt diese Verhältnisse auf den Kopf.
Die Bilder in unseren Köpfen sind mitgeprägt von dem, was uns vermittelt wurde. Was Glaube ist und wie Glaube zu leben ist haben im Lauf der Geschichte viel mehr Männer als Frauen zu erklären versucht, mehr gebildete Menschen als Analphabet_innen, mehr wirtschaftlich Unabhängige als Arme, und mehrheitlich Menschen, die Heterosexualität unhinterfragt als Norm akzeptierten. Verkürzt gesagt sind die Bilder in unseren Köpfen von finanziell abgesicherten, heterosexuellen, gebildeten, weissen Männern geprägt worden.
Queer Theology will diese vorgeformten Bilder aufbrechen und Glauben neu denken und praktizieren. Im Focus stehen dabei Fragen rund um queere Identitäten. Von dem her ist queere Theologie immer auch eine Anfrage an uns selber: Wagen wir es, überlieferte Denkmuster in Frage zu stellen und zu durchbrechen, oder klammern wir uns lieber an das Althergebrachte, auch wenn wir damit abwertend-normative Denkmuster weitertragen? Zum Teil sind die Reaktionen auf queere Theologie ebenso emotional wie jene auf Harmonia Rosales Gemälde.

Die Suche nach queeren Menschen in der Bibel ist eine Spurensuche. Diese kann verschiedene Formen annehmen, so etwa Sprach- und Textforschung, Hinterfragen von Denkmustern, aber auch den Blick in die Zeit und Gesellschaft, in der die biblischen Texte entstanden sind.

Sprachforschung

Im ersten Buch Mose, Kapitel 37, beginnt die Geschichte von Josef. Josef ist des Vaters Lieblingskind. Der Vater schenkt Josef als Zeichen der Zuneigung ein spezielles Gewand, einen „vielfarbigen Mantel“. Die Bevorzugung führt bei Josefs Brüdern zu Hass. Sie schlagen Josef zusammen, zerreissen das Gewand und verkaufen das Lieblingskind an einen Sklavenhändler. Ist es Geschwisterneid, oder spielt noch anderes mit? Das Wort für „vielfarbigen Mantel“ kommt an wenigen anderen Stellen vor, dort bezeichnet es ein Gewand für eine Prinzessin. Bekam Josef vom Vater also ein Prinzessinnenkleid? Ist das, was die Brüder Josef antun, auch transphobe Gewalt? Ausgehend von der Bezeichnung des Gewands machen sich Forschende auf die Suche nach weiteren Hinweisen nicht-genderkonformen Verhaltens bei Josef.

Denkmuster hinterfragen

Das Buch Judit ist nicht in allen Bibeln zu finden. Es beschreibt die Geschichte einer Frau, die entscheidenden Einfluss auf den Verlauf eines Krieges nimmt. Dabei ist eine Sklavin ihre Komplizin. Am Schluss der Geschichte wird berichtet, dass Judit alle Heiratsanträge ablehnt, und der Sklavin ermöglicht, eine freie Frau zu werden. Wie die Beziehung zwischen den beiden Frauen aussieht, bleibt offen – aber was können wir uns vorstellen?

Parallelen suchen

Im achten Kapitel des Matthäusevangeliums und im siebten Kapitel des Lukasevangeliums wird die Geschichte eines Centurios, eines römischen Offiziers erzählt, der zu Jesus kommt und ihn bittet, einem seiner Diener zu helfen. Der Diener sei schwerkrank. Was veranlasst diesen Centurio zu dem unter den damaligen politischen Verhältnissen doch recht ungewöhnlichen Verhalten? Nun, es kann sein, dass er ein sehr fürsorglicher Arbeitgeber war. Aus der Zeit Jesu gibt es aber auch Belege dafür, dass Centurios Diener hatten, die gleichzeitig ihre Liebhaber waren. Es kann also sein, dass dieser erkrankte Diener dem Centurio sehr viel bedeutete. Jesus heilt den Diener und staunt über den grossen Glauben des Centurios. Was der Centurio zu Jesus sagt, wird vor allem Katholik_innen seltsam vertraut vorkommen: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du einkehrst unter mein Dach; sprich nur ein Wort, dann wird mein Diener gesund.“

Fazit

Die Spurensuche führt nicht einfach zu Figuren, mit denen wir uns identifizieren können. Die Geschichte von Josef mag ein „Happy End“ haben, aber Josef erfährt viel Gewalt und Ausgrenzung, die man niemandem wünschen möchte. Judit ist eine unabhängige und eigenständige Frau, doch sie ist vor allem dafür bekannt, dass sie den gegnerischen General geköpft hat. Einige werden durch sie an das Horrorfilm-Klischee von der männermordenden Lesbe erinnert. Und wenn der Centurio und sein Diener ein Paar waren, so war es eine Beziehung, die in Strukturen der Macht und Abhängigkeit eingebunden war. Nur: was heisst es, dass diese Menschen als Vorbilder dargestellt werden? Was heisst das für unsere Vorstellungen von Gott, von Jesus Christus, von der Gemeinschaft der Gläubigen? Dass des Centurios Worte in die eucharistische Liturgie eingegangen sind, hat auch etwas Subversives. Damit sind wir schon beim nächsten Thema.

Wie leben wir unseren Glauben? Welche Vorstellungen rufen wir wach, wenn wir Gottesdienst feiern? Und was verbinden wir mit Kirche? Denkanstösse zu einigen Themenbereichen:

Leiden-schaft

Traditionell werden in der christlichen Theologie das Leiden Christi und das Engagement von Menschen für eine ihnen wichtige Sache als zwei separate Themen behandelt. Ein drittes Thema, Leidenschaft und Erotik, wird traditionell mit grossem Misstrauen beäugt. Aber ist es nicht bei allem die Liebe, die uns treibt? Ist die leidenschaftliche Zuneigung zu einem Menschen wirklich etwas grundlegend Anderes als das leidenschaftliche Engagement für eine Sache? Hat sich Jesus nicht mit jeder Fiber seines Seins, also leidenschaftlich, für das Reich Gottes und dessen Verkündigung eingesetzt? Ein Engagement, für das er gekreuzigt wurde?
Zugegeben, auf der sprachlichen Ebene ist die Verbindung im Englischen leichter als im Deutschen. Erotische Leidenschaft, leidenschaftliches Engagement, und das Leiden Jesu Christi lassen sich alle mit dem gleichen Wort wiedergeben: passion. Was geschieht, wenn wir alle drei Aspekte zusammendenken? Wenn Leidenschaft Teil unserer Gottesbeziehung ist? Wenn wir Passion im Lichte der Leidenschaft neu denken? Was heisst es, wenn wir in allem, was wir glauben und tun, zu leiden-schaftlich Liebenden werden?

Ehe und Familie

Ehe und Familie sind nicht nur konkrete menschliche Gemeinschaften, sie ziehen sich als Symbole und Denkmuster durch fast alle Aspekte der christlichen Theologie. Beispiele dafür sind:
Die Gottesbeziehung:
* Die Gottesanrede „Vater“.
Zwischenmenschliche Beziehungen:
* Die Vorstellung, dass alle Christ_innen Geschwister sind: „Brüder und Schwestern“ ist eine verbreitete Grussformel, für Mitglieder religiöser Orden ist diese Anrede erst recht üblich.
* Die für Ordenspriester verwendete Anrede Pater ist das lateinische Wort für Vater – und stellt den so Angeredeten eine Generation über die sprechende Person.
Das Heil:
* In den katholischen und orthodoxen Kirchen ist die kirchlich geschlossene Ehe ein Sakrament – nach katholischem Verständnis das einzige Sakrament, das nicht ein Priester oder eine speziell beauftragte Person spendet, sondern die Eheleute sich gegenseitig.
Gemeinschaften und Institutionen:
* Die Beziehung zwischen Christus und der Kirche wird (neben ganz anderen Deutungsmustern) mit einer Eheschliessung verglichen, in der Christus der Bräutigam und die Kirche die Braut ist.

Diese Denkmuster entstanden in einer Welt, in der die Ehe eine klar heterosexuelle, hierarchische Institution war, der (Ehe-)Mann das Oberhaupt der Familie. Dementsprechend sind in diesen Denkmustern familiäre Nähe und Verbundenheit mit patriarchalen Strukturen verflochten, zum Teil offensichtlich, zum Teil unterschwellig. Das erklärt ein Stück weit auch die vehemente Opposition gewisser kirchlicher Kreise gegen die Ehe für alle. Ein verändertes Bild von Ehe und Familie stellt tradierte Denkmuster von Kirche in Frage und erschüttert kirchliche Strukturen.
Was heisst es für unseren Glauben und die hier angesprochene Symbolik, wenn wir Ehe als eine Gemeinschaft von einander gleichgestellten Menschen sehen? Wenn Ehe für alle normal ist? Wenn wir Familien in ihrer Vielfalt sehen? Wenn wir Familien auch in ihrer Verletzlichkeit und Gebrochenheit ernst nehmen? Wenn Geschwister mehr umfasst als Brüder und Schwestern? Wenn Elternschaft geschlechtsunabhängig verstanden wird?

Wohin diese Diskussionen führen werden, ist (noch) nicht klar. Möglicherweise werden verschiedene Kirchen und Gemeinschaften die Fragen unterschiedlich beantworten.

Glossar

Mit dem Stern wird ausgedrückt, dass hier mit einem Stichwort ein ganzes Spektrum von Bedeutungen gemeint ist. Trans* wird zum Beispiel als Oberbegriff für Menschen gebraucht, bei denen die Geschlechtsidentität nicht identisch ist mit dem, was die Hebamme seinerzeit auf den Geburtsschein geschrieben hat. Wenn trans*Menschen von sich selbst sprechen, bezeichnen sie sich vielleicht als transgender, nicht-binär, genderqueer, oder mit anderen Begriffen

Binär ist ein Denkmuster, bei dem es nur zwei Möglichkeiten gibt: ja oder nein, links oder rechts. Und beim Geschlecht: Mann oder Frau.
Nicht-Binär ist ein Denkmuster, das mit mehr Möglichkeiten und mit Zwischentönen rechnet. In Bezug auf die Geschlechtsidentität heisst das, ein nicht-binärer Mensch identifiziert sich nicht entweder als Frau oder als Mann, sondern das eigene Sein wird anders wahrgenommen und beschrieben.

Das englische Wort Gender (Geschlecht) wird im Deutschen doppeldeutig gebraucht. Oft meint es die Geschlechtsrolle, also die Summe all dessen, was man gelernt hat, wie sich eine Frau/ein Mann eben (nicht) benimmt.
Mit Gender kann aber auch die Geschlechtsidentität gemeint sein.

Das tiefe innere Wissen über das Geschlecht. Stimmt dieses innere Wissen mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht überein, spricht man von cis-Menschen (von lateinisch cis: auf der gleichen Seite) Bei trans* Menschen entspricht die Geschlechtsidentität nicht dem ihnen bei Geburt zugeordneten (lateinisch trans: auf der anderen Seite). Geschlechtsidentität ist nicht nach aussen sichtbar.

Auffassung, die Heterosexualität als selbstverständlich und natürlich ansieht. Heterosexualität ist bei dieser Ansicht ein unhinterfragter gesellschaftlicher Tatbestand und wird damit als soziale Norm postuliert.

Inter*Menschen sind Menschen, deren körperliches Geschlecht (beispielsweise die Genitalien oder die Chromosomen) nicht der medizinischen Norm von ‘eindeutig’ männlichen oder weiblichen Körpern zugeordnet werden kann, sondern sich in einem Spektrum dazwischen bewegen.

Die sexuelle Orientierung eines Menschen beschreibt, zu Menschen welches Geschlechts bzw. welcher Geschlechter sich ein Mensch emotional, körperlich und/oder sexuell hingezogen fühlt, unabhängig von der sexuellen Praxis.

Von englisch „schräg, seltsam“. Lange Zeit ein Schimpfwort, insbesondere gegenüber schwulen Männern. Heute wird der Begriff aber meist positiv als Selbstbezeichnung gebraucht, vor allem von Menschen, die ihre Identität als ‚außerhalb der gesellschaftlichen Norm‘ ansehen. Außerdem kann queer als Überbegriff für Menschen benutzt werden, die nicht in die romantischen, sexuellen und/oder geschlechtlichen Normen der Gesellschaft passen. Queer ist aber auch eine Theorierichtung und ein Wissenschaftszweig, in dem Schubladendenken aufgebrochen wird, verschiedene Unterdrückungsformen miteinander verknüpft gedacht werden sollen und insbesondere Sexualität als ein Ort der Unterdrückung untersucht wird.